Der Fädler-Bub aus Salez

Christian Tinner, geboren am 3. Januar 1880 in Lienz, hatte eine „kurze Lebensbeschreibung und Jugenderinnerungen“ verfasst, als er 67 Jahre alt war.
Nachfolgend einige Auszüge:

Einleitung: Dies ist die erste Seite des Dokumentes und dient dem Verständnis der weiteren Passagen.

„Mein Vater war: Johannes Tinner, Spengler, geboren 1853
Die Mutter: Katharina, geb. Beusch, 1847.

Ich kam in Lienz bei Sennwald auf die Welt. Meine Eltern wohnten damals in der Stickereifabrik Egerter. Bevor meinen Eltern nach Lienz gezogen waren, hatten sie in Frümsen im äussern „Haltel“ jenes Doppelhaus gegenüber dem Sternen gewohnt, wo mein Grossvater Johann Tinner, alt Schreiner und Glaser – der „Gläserli“ genannt – mit der Pfeife im Mund auf dem Faulenzer an einem Schlaganfall gestorben sei und von meiner Mutter, die damals mich noch ungesehen mit sich trug, so angetroffen wurde. Erst nachher also kamen sie nach Lienz. In diese Zeit wird auch der Tod des anderen Grossvaters, des reichen Hammerschmied Beusch, gekommen sein.

Nach einigen Malen Wohnungswechsel kamen sie nach Salez in ein niedriges kleines Häuschen im Bremstal. Dort wurde eine Stickmaschine 6/4 eingestellt. Ich war zirka 3 Jahre alt und von da an blieben mir die Erinnerungen tief. Bald wurde ich zur Arbeit herangezogen und musste fädeln. Im Jahre 1886 begann dann meine Schulzeit. Ich besuchte alle 7 Klassen und 1 Jahr Ergänzungsschule und dann noch 2 Jahre die Realschule in Frümsen. Während all dieser Jahre musste ich in der freien Zeit immer fädeln, zum Teil auch noch für diese Zeit die Schule schwänzen. Dabei blieb ich immer fast gleich klein und bleich und mager. Wir hatten eben stets schwache Ernährung. Manchmal nichts, denn unser Verdienst war zufolge Ausbeutung durch den Arbeitgeber Walt in Eichberg folglich klein, selten mehr als 50 Franken im Monat für die Arbeit der ganzen Familie zusammen.

Die italienische Köchin beim Bau des Binnenkanals:

„Als wir in Salez wohnten und ich kaum 2-3 Jahre alt gewesen sein musste, ist der Werdenberger Binnenkanal gegraben worden. Unser Häuschen stand wenige hundert Meter von demselben entfernt. Die „Rucharbeiten“ wurden damals, und es blieb so noch viele Jahre, meistens von Italienern ausgeführt, weil die schweizerische Arbeiterschaft den Verdienst in den Industrien vorzog.
So waren also auch für die Kanalarbeiten fast ausschliesslich Italiener und Südtiroler da. Sie bewohnten eine grosse Holzbaracke und führten gemeinsame Küche, die ihnen von einer jungen, sehr schönen, schwarzkrausigen, rotbackigen Marie besorgt wurde. Bei dieser Marie hielt ich mich damals die meisten Tagesstunden auf.
Ich konnte ihr manches Dienstlein tun und auch etwa für sie leichtere Botendienste verrichten. Von ihr bekam ich manchen guten Bissen: Polenta, Maccaroni und Minestra. Deutsch sprach und verstand sie wenig und ich und sie verkehrten miteinander „italienisch“ was und so viel ich als 2-3 jähriges Büblein eben von ihr lernte.

Als die Brücke zwischen Salez und Haag auf ihre Tragfähigkeit getestet wurde:

„Selbstredend mussten über den Kanal auch Brücken erstellt werden, die dann auf ihre Tragkraft geprüft wurden. So erinnere ich mich noch lebhaft an die Prüfung der Kanalbrücke zwischen Salez und Haag, die etwa 500 m von Vaters Häuschen weg war. Der ersehnte Tag war da. Viele, viele Kiesfuhrwerke fuhren heran. Sie wurden mitten in die Brücke gestellt, die ganze Breite und Länge besetzt. Der etwa 12-15 m breite Kanal führte mehr als metertief scharf fliessendes Wasser. Schwarz befrackte Herren kletterten ausserhalb an den eisernen Brückenbalken herum und massen und massen.

Was sehe ich? Ich werde gewahr, dass in der Mitte der Brücke erst ganz langsam die Kiesfuder sich zu bewegen beginnen, dass ganz langsam sich die Brücke senkt, die äusseren Wagen fangen auch an, sich zu bewegen, die inneren schneller, von beiden Seiten her fahren sie in die Mitte und übereinander, die Brücke bricht. Die dicken eisernen Balken sind gekrümt wie „Türggebengel“ und ragen ins Wasser hinunter. Dort unten sehe ich einen Herrn, der halb im Wasser hängt, eingezwängt ist zwischen Eisenbalken, die Kanalwellen spielen lustig mit den Flügeln seines Frackes, er aber ruft um Hilfe. Man weiss nicht in welchem Augenblick sich die Wagen weiter in Bewegung setzen könnten und so ist gewiss zu sagen, dass es beherzte Männer waren, welche den Verletzten aus der Situation retteten.

Einige Minuten später sah ich einen Trupp Männer, darunter auch mein Vater, welche einen befrackten Herrn umringten, packten und in den Kanal hinein zu werfen drohten. Das war der für den Brückenbau verantwortliche Ingenieur, Herr Wey. Die Sache bekam ein gerichtliches Nachspiel, dessen Verlauf und Ergebnis mir nicht bekannt ist.

Mich interessierte mehr, dass wir dann nachher auf der Abbruchstelle Eisennieten suchen und um einige Rappen abgeben konnten.“

Der erste Schultag:

„Mein Vater hatte also eine 6/4 Handstickmaschine. Schifflistickmaschinen gab es damals noch nicht. Wie meine älteren Geschwister musste auch ich fädeln lernen und brachte es schon im Alter von 4 Jahren auf eine ordentliche Fertigkeit. ….. Wir Geschwister fädelten also, man könnte sagen, fast um die Wette. Ganz besonders meine um 5 Jahre ältere Schwester Anna war sehr froh um meine Mithilfe, während der älteste Bruder Johann sehr oft schon als Schulknabe auf der Stickmaschine stickte „wie ein Grosser“. Der Vater war eben oft abwesend als Spengler arbeitend und brachte über seinen eigenen Unterhalt hinaus wenig für uns auf….

Mein erster Schultag im Mai 1886 bleibt mir noch im Gedächtnis. Von 1-4 Uhr war Schule für die ersten 4 Klassen. Wir waren also tief „beschäftigt“ mit Bölleli und Strichli machen. Ich hörte allerdings mit Interesse auch den älteren Schülern zu. Die vierte Klasse hatte gerade Kopfrechnen. Da war ein grosser Hans dabei, den der Lehrer fragte: „Hans, was ist 17 und 17?“ In weinerlicher Stimmung erfolgte zuerst „17 und 17 = 17“, dann noch weinerlicher „17 und 17 = 7“. „Dumms Züüg!“ war die Antwort des Lehrers.
Ich rief mit meinem dünnen Stimmchen laut „17 und 17 = 34“. Der Lehrer sprang vor: „Wer het do grüeft“. Alle Erstklässler zeigten auf den Fehlbaren. „So du? Chomm emol do füra“. Mir ward Angst. Der Lehrer stellte mich auf seinen Stuhl und rief: „Hans chomm au do füra“. Dann sagte der Lehrer: „So Christeli sägs jez em Hans lut i d’Ohre’n ina“. Ich sagte es laut. Nachher fragte mich der Lehrer „Wieso weisst du das?“ „Jo, i moss halt fädla, en Topf het 17 Nodla, zwe Töpf hond 34, drei Töpf onaföfzg Nodla, i woass no mea.“
Der Lehrer lachte nicht, er machte ein ernstes Gesicht, gab mir einen „Föfer“ und sagte: „So, so, du bist au so en’arms Fädlerbüebli“.

Der kleine Fahrgast:

„Etwa von 1889 an, da ich ein ganz kleiner Bube war, musste ich fast jede Woche mit fertigen „Sticketen“ zu unserem Fabrikant Walt nach Eichberg gehen und wieder neue Aufträge holen. Der Sack auf meinem Rücken war gewöhnlich fast so gross und so schwer wie ich selbst. Ich ging zwar meistens gerne, denn ich konnte jeweilen mit der Bahn fahren. Man schickte mich, weil ich um die halbe Taxe fahren konnte. Das war zwar nicht ganz in Ordnung, denn von 1890 an hätte ich als Zehnjähriger die ganze Taxe zahlen müssen. Aber der Vater sagte mir, wenn ich gefragt werde wie alt ich sei, solle ich nur sagen „nüni g’si“. So wurde es auch wohl etwa 4-5 Jahre gemacht und ich bin in jener Zeit auch kaum etwas gewachsen.

Der Stationsvorstand kannte mich wohl, aber er wusste auch, dass wir arme Leute waren und drückte ein Auge zu. Einmal stand gerade ein grosser, dicker Herr bei ihm, als ich mein Billet bestellte: „Oberriet retour“. Der Vorstand war auch sehr korpulent und fragte mich: „Ja, wie alt bist du?“ „Nüni g’si“. Die beiden blinzelten einander lächelnd an. Ich war damals etwa 13 Jahre alt und hatte es schon gespannt, dass sie sich ein wenig belustigen wollten. Dann lächelte aber auch ich und sagte: „Es ist aber o nöd i dr Ornig, dass me dr Pris noch am Alter asetzt, es sött nochem Gwicht goo“. Bravo rief der Vorstand und beide schauten mich lieb an und lachten herzlich.

Diese Fahrten waren mir ein Vergnügen. Aber der Marsch durch das breite Tal nach Eichberg, den schweren Sack auf dem Buckel, war schon das Gegenteil. Besonders schlimm war es im Winter. Ich war zudem immer schlecht gekleidet: Zwilchhosa, e Hempli, e Brosttüechli und en Tschoppa, e glismeti Zipfelchappa zom über s’Gsicht abe stropfa as no no s’Mul und d’Schnodernasa usa glueget hond. Strümpf und Schue vo dr Muetter.
Wenn es Pflutsch hatte, war ich jeweilen sehr schlimm dran. Einmal als ich ganz durchnässte Strümpfe und Schuhe hatte und fror und gar sehr hungerte, wagte ich es bei meiner Rückkehr in Oberriet in jene Wirtschaft beim Bahnhof hinein zu gehen, um ein Bürli für fünf Rappen zu kaufen. Der Stationsvorstand von Oberriet sass als alleiniger Gast am runden Tisch. Der kannte mich vom vielen Sehen und sagte: „Lueget jez chunt s’Salezer Büebli“. Die kleine dicke Wirtin kam herbei und fragte recht freundlich was ich wünsche. „E Pürli“ und der Vorstand sagte „jo Büebli do muest no lang warte, sitz du no e chli ab“ und zur Wirtin „gend ihm do e Gläsli Wii dass er cha verwarme, magst?“ „Jo gern, i danke vielmol“. Die Wirtin hiess mich Schuh und Strümpf ausziehen, sie wolle sie trocknen und gab mir Finken, um die Füsse zu erwärmen. Sie sagte dann auch noch, wenn ich jeweilen lang warten müsse und friere, solle ich nur herein kommen, ich müsse nichts bestellen und zahlen, für e soa Büebli habe sie schon Platz genug.

Tatzen in der Schule:

„Bis anfangs dritter Klasse war Herr Robert Bühler unser Primarlehrer. Seinen Unterricht genoss ich in vollen Zügen. Für manche Schüler, über welche ein anderer hinweg gegangen wäre, opferte er Geduld und Zeit, um sie, trotz ihrer Beschränktheit, doch noch zum Lesen und Schreiben zu bringen. Aber dennoch mussten Fortgeschrittenere nicht warten. Leider hiess es eines Tages plötzlich, es sei keine Schule mehr, der Lehrer sei fort.

Nach vielen Wochen ging die Schule wieder an. Ein neuer Lehrer kam. Sein Beginn gefiel mir doch gar nicht, er lautete ungefähr: „I bi jez euera Learer, die alt Schlamperei höart jez uf, i will eu jez denn emol ranschiera zum recht toa und lerna“. Der Lehrer blieb noch manche Jahre da. Ich machte bei ihm noch alle Klassen von 3-7 und ein Jahr Ergänzungsschule durch. Von den vielen Eindrücken, die ich da erhielt, erzähle ich lieber nicht viel. Sie trugen mir nicht viel Liebes ein.

Vier „Tatzen“, die ich von ihm auf meine schwachen Fädlerbubenhändchen erhielt, lösten in mir eine grosse Abneigung gegen ihn aus, denn ich war mir nie bewusst, womit ich sie hätte verdient haben sollen. Aber ich kann mich damit abfinden, weil andere Schüler – nicht alle – auch sehr oft körperliche Strafen erhielten, weil sie nicht zu antworten wussten. Vielleicht hat er nicht gewusst, dass man einem Gelehrsamkeit und Weisheit weder durch Hände noch durch die Haare oder den Hintern eingeben kann. In dieser Beziehung war er aber tatsächlich ein sehr geplagter Mann, denn es gab doch immerhin furchtbare Stöcke und Faulenzer, die ihm das Leben verbitterten.

Lokalpatriotismus:

Es kam leider im Dörfchen der „Örtligeist“ öfters zur Geltung und damit eine gewisse Verachtung.
Das geschah von einem Teil der Mitklässler gegen mich, weil ich eben „nur“ ein Frümsner war und weil ich die Rechnung richtig und zuerst gelöst hatte. Da wurde ich oft auf dem Heimweg von einer ganzen Rotte umzingelt, gepufft und mit Schimpfnamen beladen.

Als aber ein Mädchen mich herumriss, stellte ich mich mit dem Lineal zur Wehr und traf sie gerade in einen Schranz in der Schürze, der sich dann bis zuunterst verlängerte. Ihr Vater war aber Schulrat und kam am folgenden Tag während der Pause auf den Spielplatz. Ich sah ihn kommen. Ich überlegte rasch; wenn ich fliehe, erwischt er mich ein anderes Mal, ich sag’s lieber rasch dem Lehrer was los ist. Dieser hiess mich: „Bleb da!“ Der Schulrat kam her und wollte mich packen. Der Lehrer stand aber vor mich hin und fragte: „Herr Schulrat, was wollen sie hier?“ „Ebe dem chaibe Schnodere emol e par an Grind ai geh“. Lehrer: „Herr Schuelrot, do hond sie nünt z’toa, im Schuelhus und uf em Spielplatz bin i zueständig und sos niemert. Wenn si meined, si sigid im Recht, muessme das amene andere Ort usmache“.
Damit war die Sache erledigt und meine Liebe zum Lehrer voll.

Wie wäre es doch schön auf der Welt, wenn überall Gerechtigkeit und Schutz vor Gewalt zur Geltung käme. So wurde nun auch der Gang zur Schule für mich erleichtert: Der Lehrer warnte vor weiteren Plagereien und drohte dabei mit dem Lineal.

Tummelplatz für Ziegen und Buben:

„Wer heute von Salez nach Haag fährt mit der Bahn, sieht rechts eine breite Ebene und am Bergrand einige Dörfer: Frümsen, Sax, Gasenzen, Gams usw., das Saxerriet. Dieses war damals fast durchwegs Sumpfboden und mit Schilf und vielen anderen Sumpfpflanzen bewachsen.

Viele Landwirte aus den umliegenden Dörfern hatten da einzelne Parzellen zu Eigentum. Das bildete viele Jahre der Tummelplatz vieler Ziegen und Buben. Ich war mit unserer „Gais“ auch dabei. Wir Buben wussten von vielen Parzellen, wem sie gehörten. Wenn dann etwa so ein Besitzer kam, mussten wir die Ziegen hüten, damit sie nicht etwa in dessen Parzelle waren, sonst hätte er sie uns wegnehmen können. War er fort, so begann wieder das Spitzbubenleben: Jassen, Rauchen, Militärlen usw. Es ist einleuchtend, dass diese Zustände den Bauern nicht beliebten.

Die Dorfgemeinde besass in diesem Gebiet ein grosses Stück Boden, das von der Bahnlinie und einem Bach umfriedet war. Dieses wurde dann zur Verfügung gestellt, damit die Leute ihre Ziegen einem Hirten übergeben konnten, gegen Entgelt natürlich. Mein Bruder Andreas bewarb sich um diese Stelle, die für den ganzen Sommer mit 100 Franken bezahlt wurde. Es wurden ca. 100 Ziegen aufgegeben, die man jeden Morgen abholen, gegen Mittag wieder bringen, um 4 Uhr abholen und abends wieder bringen musste. Das war aber eine schwere Aufgabe. Ziegen gehen eben nicht miteinander wie Schafe, sondern jede springt nach eigenem Befinden vorwärts, rückwärts, links oder rechts und wo immer möglich in Mais-, Bohnen- und Gemüsefelder hinein.

Meinem Bruder verleidete das Hirt-sein, er streikte einfach. Weil aber der Vater für die Durchführung verantwortlich war, musste ich einspringen und bis Ende durchhalten. Für mich war das noch schwerer, weil ich viel schwächer und jünger war. Es waren noch zwei starke, behornte Ziegen dabei, die sich von mir nicht jagen liessen, sondern immer ein Stück hinten drein liefen. Wollte ich sie treiben, so putschten sie mich mit ihren Hörnern zu Boden. Es ging viele Tage bis ich ihnen mit meinen verschiedenen Stöcken den Mut gekühlt hatte.

Einmal war ich während dem Hüten bewusstlos geworden. Innert dieser Zeit sprangen eine Anzahl über den Bahngraben auf das Geleise. Da kam ein Güterzug und pfiff und pfiff immer wieder. Ich kam zu mir und sprang ebenfalls hinüber, um sie weg zu jagen. Die Ziegen aber sprangen ein grosses Stück immer im Geleise vor der Lokomotive her. Als dann eine Barriere kam, hielt der Zug an. Lokomotivführer und Heizer kamen heraus, halfen mir die Ziegen auf die Strasse hinausjagen und gaben mir mehrere zünftige Ohrfeigen. Das sei besser als eine Strafanzeige. Bis ich meine Dutzend Ziegen wieder im hinteren Rossmaad bei den anderen hatte, habe ich von den auf ihren Feldern arbeitenden Frauen noch vieles vernommen.

Gute Menschen:

„In den Jahren meiner Jugend lebten in vielen oder allen rheintalischen und werdenbergischen Dörfern viele, viele Familien in Armut und bitterer Not. So auch wir. Von Sozialorganisationen, die da zu helfen suchten, weiss ich leider nichts. Aber es gab doch gute Menschen, die den Armen viel, viel Gutes taten.

Im Gasthaus zum Löwen in Salez wohnte die Familie Heinrich Dinner. Der Vater war viele Jahre beliebter und berühmter Gemeindeammann der politischen Gemeinde Sennwald. Da war auch das Postbüro, das zumeist von der Tochter verwaltet wurde. Sie besassen auch viel Vieh und eine Fuhrhalterei und auch noch eine Mosterei. Selbstverständlich dazu auch eine umfassende Landwirtschaft mit sehr viel Ackerbau. Dass die Familie nicht allein all dieses Gewerbe besorgen konnte, liegt auf der Hand. Sie beschäftigten also auch viele Arbeitskräfte. Aber trotz dieser weitschichtigen Inanspruchnahme hatten sie immer Zeit, wenn arme Frauen oder Kinder um Rat oder Tat suchten. Wie oft hörte ich meine Mutter sagen: „S’Gmeindamma Lisabeath (so nannte man die Frau Gemeindeammann) oder s’Leuewirts Kathrili (das war die Tochter) het mer no ihi grüeft, luegend was hani übercho“ und hatte gewöhnlich gekochte Speisen für uns oder Obst. Beide waren auch immer bereit, Sorgen und Kümmernisse armer Frauen und Kinder anzuhören und möglichst guten Rat und Trost zu geben. Sie waren wahrlich Mütter der Armen des Dorfes.

Es gab noch mehr gute Männer und Frauen im Dorf und nicht viel ausgesprochen „Geizige“.

Aber eine aufsehenerregende Begebenheit trat noch im Jahre 1890 ein. Der Herr Pfarrer Jakob Sonderegger, der gewiss schon fast 50 war, nahm sich eine „sehr reiche“ Baslerin seines Alters als Frau. Das gab Neuigkeiten!
Sie gründete eine Sonntagsschule für die Kinder der unteren vier Klassen. Sie besuchte während des Herbstes alle Familien der Pfarrei Salez-Haag und sah sich um, ob Mangel oder gar Not da wäre, ohne irgendwie aufdringlich zu sein. Wenn dann bald Weihnachten kam, trug sie abends bei Dunkelheit, möglichst ungesehen, grosse und kleinere Pakete in die Hütten der Armen. Es waren Kleidungsstücke aller Art. Alle Kinder, auch Erwachsene, die Mutter und oft sogar der Vater, erhielten etwas.

Einmal als wir, ohne den Vater, um den Tisch sassen bei Kaffee und geschwellten Kartoffeln, klopfte es an die Stubentüre. Meine beiden Brüder meinten, es sei ein Nachbarbube. Johann hatte eine gebrochene Stimme und bellte wie ein Hund, Andreas rief laut: „Herein, es wird wohl kein Gaisbock sein“. Da kam aber, so unverhofft, Frau Pfarrer mit einem grossen Paket herein. Wir waren ganz bestürzt, die Mutter sehr erschrocken und bat um Entschuldigung. Frau Pfarrer lächelte freundlich und übergab der Mutter das Paket. Sie hatte unsere Familie reichlich bedacht. An der Weihnachtsfeier erhielt ich neben anderen Sachen das Neue Testament von Dr. Martin Luther, welches später für mich noch eine gar nicht unwichtige Rolle spielte.

Nun kam also bald der Frühling 1891 und liess mich in die fünfte Klasse steigen. Damit wurde ich auch am Sonntag kinderlehrpflichtig und wir hatten auf jeden Sonntag einen Abschnitt aus dem Neuen Testament erzählen zu lernen. Das tat ich gerne und, da es bequemes Taschenformat war, nahm ich es oft mit beim Ziegenhüten.

Die Werdenberger sind ein eigenes Völkchen:

…Der neue Lehrer war von St. Gallen und kurz vorher noch Kantonsschüler, also „neu“. …. Ein Intermezzo gab es einmal beim schriftlichen Rechnen. Er diktierte eine Aufgabe, die ungefähr so lauten mochte: 1 kg Hafer kostet 13 Rp. Ein Landwirt füttert sein Pferd täglich mit 17 kg vom 11. April bis 23. Oktober. Wie viel Hafer frisst das Pferd in dieser Zeit und was kostet er. Dann machte er noch die Bemerkung „Jo, d’Werdeberger gend zwor de Ross nöd so viel Haber“.
Päng! Ein Mitschüler hatte heftig ein schweres Buch auf den Pult getätscht. „Was isch do?“ fragte der Lehrer. Der Schüler war bei weitem nicht der Gescheiteste, aber er gab zur Antwort: „Ens got Eu denggi nüt aa, wieviel Haber as mör de Rosse gend. Mör lond üs das nöd sääge“.
… Es mag sein, dass ihm irgend jemand gesagt hatte, die Oberländer seien halt harte Leute, da müsse man grob dahinter. Aber das wäre Irrtum.

Der Salezer Pfarrer möchte helfen, vergebens

„Am Karfreitag, 6. April 1896 fand in der Kirche Salez durch Herrn Pfarrer Sonderegger die Konfirmation statt. Er gestaltete sie besonders festlich gegen frühere Jahre, weil wir eine grössere Klasse waren und die meisten gut singen konnten. Es war üblich, dass der Pfarrer jedem Konfirmanden einen schön farbig gedruckten Konfirmandenzeddel gab. Man mass diesem Zeddel eine besondere Bedeutung zu, denn sie waren inhaltlich verschieden.

Dieser Tag der grossen Freude war aber für mich auch ein Tag schweren Kummers. Was wird mir nun das Leben bieten, wie werd ich mich durchbringen? Ich war kaum mehr als 130 cm gross, unterernährt, schwach und mittellos. Fädeln, Fädeln war mein Los.

Es hätte auch anders sein können. Nach einer der letzten Unterrichtsstunden fragte mich Herr Pfarrer, was ich nachher zu tun gedenke. Aber ich war planlos. Er sagte mir: „Ich habe schon oft darüber nachgedacht und ich habe die Meinung, du solltest ins Lehrerseminar nach Rorschach gehen. Es braucht drei Studienjahre und kostet 300 Franken pro Jahr. Das erste Jahr will ich dir bezahlen! Für die anderen Jahre müsstest du selber aufkommen“. „Ich danke ihnen recht sehr für Ihr Anerbieten, Herr Pfarrer, aber ich weiss nicht wie ich die anderen 600 Franken aufbringen könnte“. „Du hast doch einen vermöglichen Onkel, den Hammerschmied Beusch in Sennwald, der könnte es dir leicht geben“. „Ja, wenn er wollte, aber der weiss ja wie arm wir sind und er hat uns noch nie etwas gegeben, ausser etwa Kaffee, Brot und Butter, wenn wir hie und da einmal zu Besuch eintrafen.“ „Du könntest dich auch um Stipendien bewerben und in der Ferienzeit kollektieren, wenn du gute Zeugnisse aus dem Seminar bringst“. „Herr Pfarrer, ich würde es kaum über mich bringen, betteln zu gehen, lieber will ich mich mit Arbeiten durchs Leben schlagen.“

Wie gerne hätte ich zum Anerbieten des Herrn Pfarrer ja sagen wollen! Aber ich hatte ein geheimes Leiden an mir, das ich ihm nicht sagen mochte und gegen das ich von frühester Jugend gekämpft hatte, umsonst! Ich konnte und durfte es nicht wagen, mit diesem Leiden ins Seminar zu gehen. – Ererbte durch Frost und Unterernährung vermehrte Blasenschwäche lässt sich weder mit schimpfen noch mit schlagen heilen.

Wie leid es mir tat auf das angebotene Glück zu verzichten! Fädeln, fädeln und zeitweise sticken war mein Los.“